Kreis mit Flammen auf Hügel, Aquarell

Gemeinsam malen

Portrait Oliver Schultz
© Alexander Paul Englert

Dr. phil. Oliver Schultz | Wiss. Mitarbeiter der Justus-Liebig-Universität Gießen | Bildender Künstler

Der Bildende Künstler und Germanist studierte an der Alpen-Adria Universität Wien und promovierte über Demenz und Ästhetik. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen hat er zahlreiche nationale und internationale Forschungsprojekte zu Demenz, Alter und Ehrenamt konzipiert und durchgeführt. Seine Publikationen, Vorträge und Ausstellungen widmen sich der faszinierenden Möglichkeit künstlerischer Praxis für eine besseres Leben mit Demenz in unserer Gesellschaft. Er ist Mit-Herausgeber von demenz: das Magazin.

Weitere Informationen: www.oliverschultz.infowww.durch-einander.comwww.demenz-magazin.de

Auf Wunderschaft: Menschen mit und ohne Demenz malen zum Psalm 23. Begegnungen, Betrachtungen, Überlegungen.  

Ich reise nach München, wo ich mit Menschen in einem Altenheim zum Psalm 23 malen will – Menschen mit Demenz sind ebenso eingeladen wie Menschen, deren Welt noch in den gewohnt geordneten Bahnen verläuft. Ich kenne sie nicht, sie kennen mich nicht - wir sind einander unbekannt. Wird es mir gelingen, ihr Vertrauen zu gewinnen? Werden sie sich darauf einlassen, eigene Bilder zu malen? 

Wissen kann ich es nicht, aber ich bin doch guter Dinge. Seit 25 Jahren male ich mit Menschen mit Demenz. Und denke ganz oft: Etwas Schöneres gibt es kaum. Natürlich begegne ich da immer wieder auch Menschen, die unter der Last der Demenz leiden: Betroffene, Angehörige, auch Pflegende. Natürlich, denn mit Demenz zu leben, das fordert viel, manchmal zu viel. Und dennoch. Sollte ich ein Fazit dieser Jahre der künstlerischen Arbeit mit Menschen mit Demenz ziehen, dann vor allem anderen dieses: Hier begegnet man ganz viel Schönem. Darauf kann ich, nach all diesen Jahren, vertrauen. Auch jetzt, auf dem Weg nach München, zu den Menschen, mit denen ich malen werde. Und auch wenn ich sie noch gar nicht kenne: Ich vertraue auf die große Vertrauensfähigkeit von Menschen mit Demenz. 

Und diese Fähigkeit hat wohl ganz viel mit der Demenz selbst zu tun. Menschen mit Demenz müssen vielfach mit dem Unbekannten umgehen. Ich stelle es mir so vor: Unser aller Leben ist eine Art und Weise, die Welt zu bewohnen. Im Laufe der Jahre möblieren wir unser Leben mit zahlreichen Gewohnheiten. Da finden sich wichtige, unverzichtbare Möbelstücke neben so manchem Krimskrams. Alles gehört dazu. Auch das Leben mit Demenz ist so eine Art und Weise, die Welt zu bewohnen. Aber die Demenz entwendet immer mehr dieser Lebensgewohnheiten und Lebensgewissheiten. Man kann sagen: Der Lebensraum wird leerer. Viel Wichtiges geht verloren. Das ist nicht einfach. Das ist immer auch eine Leidensgeschichte. Aber vielleicht, so überlege ich vorsichtig, wächst durch den demenziell bedingten Verlust des Vertrauten auch die Offenheit für das Unvertraute? Geht vielleicht auch so manche Last, so manches Erbstück verloren, die man ein Leben lang mit sich rumschleppte? Oft hört man von Angehörigen oder Pflegenden voller Bewunderung: Menschen mit Demenz leben im Hier und Jetzt. Sie scheinen besonders begabt darin zu sein, eine unmittelbare Begegnung vorurteilsfrei zu leben. Vielleicht ist auch das eine Erklärung für die große Vertrauensfähigkeit, die mit der Demenz einher gehen kann.  

Krankheit, Verlust, Vergessen – alle diese Erfahrungen gehören zu Demenz und führen die Menschen in ein von Ungewissheiten geprägtes Leben. Zurecht wehren sich Menschen mit Demenz und diejenigen, die sie versorgen, dagegen, dass ein Leben mit Demenz auf Verlust und Verfall reduziert wird. Demenz ist mehr als nur eine Krankheit. Demenz ist eben auch eine Lebensweise. Und die hat viele Facetten. Die Demenz soll nicht beschönigt werden. Aber ebenso wenig sollten nur ihre beschwerlichen Seiten gesehen werden.  

Ja, die Demenz kann zu einer großen existenziellen und sozialen Not anwachsen. Was wird aus mir werden? Wie werden wir als Familie das schaffen? Wie werden wir es als alternde Gesellschaft hinbekommen, auch in Zukunft Menschen mit Demenz gut zu versorgen? Die Pflegekrise ist längst auf dem Weg in die Katastrophe. Immer weniger Alte werden in Zukunft von ihren Familien versorgt werden können. Professionelle Pflege wird teurer, seltener, schrumpft immer mehr auf das Allernötigste, manchmal auch darüber hinaus. All diese Aussichten machen zurecht besorgt. So könnte man Demenz als eine große Unbekannte verstehen, die alle Bereiche unseres Lebens mit immer größeren und immer mehr Fragezeichen versieht und auf Antworten drängt.   

Schauen wir auf den Psalm 23, so begegnen wir dort einer Antwort, die ebenso einfach wie aus der Zeit gefallen scheint: Hab Vertrauen! Der Psalm 23 spricht davon in Bildern von beeindruckender Schönheit und Anschaulichkeit. Gesagt wird: Von Anfang an steht mein Lebensweg unter der Obhut des Hirten. Nichts wird mir mangeln, auch im Angesicht von Unglück oder Feindseligkeit darf ich getrost an der Seite des Hirten gehen. Wohin mich dieser Weg führt, das kann ich nicht wissen. Das Unbekannte wird ja nicht aufgelöst oder geleugnet. Es ist und bleibt Teil unserer Lebenswege. Aber, und das ist das entscheidende, auf diesen Wegen sind wir nicht allein. Wohin auch immer sie führen: Wir bleiben doch immer „im Hause des Herrn“. Diese Worte richten sich an alle Menschen. Und doch entfaltet sich ihr Trost vor allem mit Blick auf jene Menschen, die sich in besonderer Weise vom Unbekannten und von Verunsicherung bedroht sehen: Kranke. Sterbende. Notleidende. Auch Menschen mit Demenz. Deshalb könnte der Psalm 23 auch so gelesen werden: Hab keine Angst vor den Verunsicherungen, die durch deine Demenz auf dich zukommen. Du bist nicht allein. Ich bleibe an deiner Seite, ich stütze dich. Ich bleibe bei dir, und du bleibst bei mir.  

Auch die Kunst sucht von jeher Antworten auf die große Frage des Unbekannten. Der große Philosoph Platon wusste, dass die Dichter Inspiration des Göttlichen benötigen, um dichten zu können. Aber die, so Platon, erlangen sie nur, wenn „die Vernunft nicht mehr in ihnen wohnt“.1 Das eigene Denken muss sich jenseits des Gewohnten und Gewussten der Eingebung durch etwas Anderes öffnen. Petrarca, ein Dichter aus der Zeit der Renaissance, sagte, das Schöne, das die Kunst erzeugt, sei etwas Geheimnisvolles, etwas, das sich dem Wissen entzieht. So wird dieses Nichtwissen der Kunst seit dem 16. Jahrhundert zum ‚Je ne sais quoi‘ (Ich weiß nicht, was…), zu einer Redewendung, die das Besondere der Kunst gerade in ihrer Offenheit für das Unbekannte sieht.2 Der Philosoph Adorno spricht im 20. Jahrhundert sogar davon, dass die Kunst sich dem Unbekannten aussetzen muss, wenn sie wirklich Kunst sein will. Er sagt: „Kunst machen, heißt Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.“ Und folgert daraus: „Alle Kunstwerke, Kunst insgesamt, sind Rätsel“3 .  

Die Kunst geht also immer schon in besonderer Weise mit dem Unbekannten einher. Sie stellt sich ihm, sie vertraut sich ihm an. So auch in der Malerei. Beginnt diese doch mit dem sogenannten horror vacui. Den kennen viele, die zu malen beginnen. Er bezeichnet die Angst vor dem leeren Bogen Papier, vor der leeren Leinwand. Wer wagt es, die ersten Schritte in diesen leeren Raum zu setzen? Wer macht den ersten Pinselstrich?  

Auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Malprojekts zum Psalm 23 sehen sich, als sie in dem Raum mit den bereitgestellten Tischen, Farben und Stiften eintreffen, einem solchen leeren Bogen Papier gegenüber. Auch sie empfinden womöglich den horror vacui. Aber diese Leere birgt so viel mehr als nur Beängstigendes. Sie birgt alles Mögliche. Nichts, was sich nicht zeigen darf auf solchen leeren Bögen Papier! Häuser mit Armen und Augen; Bäume, die fliegen; Menschen, die wie Blumen wachsen; Fische, die im Himmel schwimmen.4 Das leere Blatt und mit ihm die Kunst ist all diesem Möglichen gegenüber sehr sehr gastfreundlich.  

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Elisabeth Gartner

Drei verschiedene Arten und Weisen also, mit dem Wagnis des Unbekannten umzugehen: die Demenz, die Kunst und der Psalm 23. Um ihr Zusammenspiel ging es an jenem Nachmittag in München. Und in seinem Verlauf haben sich ganz vielfältige – alle möglichen – Sichtweisen gezeigt. Sie widerspiegeln die Unterschiedlichkeit dieser Menschen, die in sich viel vielfältiger ist als die Frage „krank oder gesund?“ Da gibt es immer wieder Linienzeichnungen wie die liebevolle Darstellung von Elisabeth Gärtner, die schwarz auf weiß, ganz direkt zeigen, worum es in dem Psalm 23 geht: Der Hirte ist zu sehen, die Schafe, der Weg. Andere Bilder lassen sich nicht auf den ersten Blick verstehen. Ein paar von ihnen möchte ich hier genauer betrachten.  

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Gerda Demers

In dem Bild von Gerda Demers meint man jeder Farbspur das Zittern der Hand und des Pinsels anzusehen, mit der sie erzeugt wurden. Flüchtig streifen sie das Blatt, allmählich zeichnet sich Erkennbares ab: ein Baum, der sich verzweigt, ein Boden, der leuchtet und eine Figur, rosarot, nur angedeutet, wie ein Geist beinahe, und wie ein Geist auch geradezu verwehend. Die Flüchtigkeit des Bildes erscheint mir wie ein starkes Sinnbild für die Demenz. Die Kräfte lassen nach: die Farben werden blasser. Halt und Orientierung gehen verloren: die einzelnen Figuren sind kaum erkennbar. Aber: das Bild entsteht - nicht trotz, sondern aufgrund dieser demenziell bedingten Merkmale. Und so zeigt es sich als ein starkes Bild der Vagheit. Als solches forderte es uns auf, um so achtsamer hinzuschauen. Ich bin noch da! Scheint es zu flüstern. Das Bild entfaltet das, was ich im Zusammenhang mit Demenz gerne als Leisstärke bezeichne. Menschen mit Demenz werden allzu oft überhört oder übersehen in unserer Welt der Lautstärke. Wenn sich aber diese Stärke des Leisen in unserer Welt der Lautstärke behauptet, dann entfaltet sie ihre Präsenz, gerade weil sie sich auf der Schwelle zur Verflüchtigung befindet, um so kraftvoller.  

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Inge Jakob

Wie eingangs erwähnt: Auch Menschen ohne Demenz haben teilgenommen. Eine von ihnen war Inge Jakob. Sie hat den Psalm 23 auf besondere Art umgesetzt. Da ist diese große grüne Wiese, darüber eine blaue Farbzone (ein Fluss?), auf der sich ein großer Baum erhebt. Neben dem Baum ein Altar, bestückt mit einem Kreuz, einem Kelch. Und nun sehe ich: Auch die Zweige des Baumes öffnen sich wie ein Kelch, bergen in sich das Grün der Blätter wie einen Trunk. So wird die Natur selbst, über den gemalten Altar hinaus, zum Sinnbild für die Anwesenheit des Glaubens, wird zum ‚Haus des Herrn‘. Inge Jakob nannte ihr Bild ‚Hoffnung und Kraft‘. 

Gleich drei Zeichnungen hat Manfred Lindermayer angefertigt. Ich erinnere mich, wie skeptisch er zu Beginn der Malstunde war. Ich zeigte ihm die Stifte, die Farben, die Pinsel: „Möchten Sie lieber zeichnen oder malen?“ „Weder noch“, gab er zur Antwort, und es schien, dass er sich nicht am Malen beteiligen würde. Später erfuhr ich, dass er früh im Leben und dann auch sehr schwer von Demenz betroffen war. So sei er erst vor Kurzem in eine beschützende Wohngruppe für Menschen mit starker Demenz eingezogen. Und es falle ihm schwer, sich in seine neue Lebenssituation zu finden. Diese Schwere war ihm nicht zu verdenken. Und so kam er auch in die Gruppe, etwas mürrisch, reserviert, abwartend, gar ablehnend? Aber als dann um ihn herum die anderen zu zeichnen begannen, ließ er sich gleichsam davon mitreißen. Vielleicht sogar inspirieren? Jedenfalls hat er gleich drei Zeichnungen angefertigt. In ihnen gleitet die Linie auf besonders freie, fließende Art und Weise durch den Bildraum. Der Stift geht ganz frei seiner Wege, hin und her, auf und ab. Und dann hat er zwei seiner Zeichnungen auf gleiche Weise beschriftet: In der Ruhe liegt die Kraft. Auf einem Blatt schreibt er es immer wieder, als müsse er sich dieser Botschaft immer wieder versichern: In der Ruhe liegt die Kraft. Aus jeder Richtung lässt es sich lesen, es gibt kein oben und unten. Das Bild erscheint, wie seine Linien, als Ausdruck einer befreiten Beweglichkeit. Offensichtlich ist es ihm gelungen, zeichnend seiner eigentümlichen Wege zu gehen. Ob er durch seine Zeichnungen dieses Zusammenspiel aus Ruhe und Kraft für sich entfalten konnte? 

Drei Zeichnungen mit Linien und Worten, meist Bleistift, mit roten und blauen Elementen.
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Mechthild Hartnik

Eine andere Malerin ist mir in Erinnerung. Ihr Name ist Mechthild Hartnik. Auch sie war von Demenz betroffen, war sehr still, zaghaft in ihren Reaktionen, in sich gekehrt, wirkte verunsichert. Aus all dem stieg die Frage auf:  Was soll ich hier? Ich malte für sie auf einem Blatt, führte vor, wie die Farbe sichtbar wird, wie das Führen des Pinsels seine Spuren hinterlässt. Sie schaute nur. Und dann, ich hatte mich wieder der Gruppe zugewandt, zog sie mit dem Pinsel ganz langsam einen hell leuchtenden Kreis auf ihr Blatt, füllte ihn mit bewegten Zacken, setzte darunter eine kleine grün getupfte Fläche, und darüber ein paar leuchtende Schlangenlinien. Insgesamt wenig. Aber doch in seiner Einfachheit sehr präsent. Ich denke: Eine große Sonne scheint über einem Feld, vielleicht einem Fluss? Mit ihr über dieses Bild sprechen, das ging nicht. Aber wie wunderbar, wenn der demenziell bedingte Verlust des Sprechens nicht ins Verstummen führen muss. Wenn durch das Malen auch diese Dame mit ihrer Demenz die Möglichkeit erhält, Spuren zu hinterlassen, die sagen: Ich war hier. Es gibt mich. Das ist mein Bild. Hier hat die ganz einfache Sichtbarkeit der Farben eine leuchtende Spur ihrer Persönlichkeit hinterlassen. Und in Gedanken an den Psalm 23 denke ich: Auch ihr ist es möglich, einen Weg zu gehen, ihren Weg, wenn auch mit Pinsel und Farbe.  

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Hildegard Schwarzbauer

Etwas Ähnliches hat vielleicht auch Hildegard Schwarzbauer zum Ausdruck bringen wollen. Wie einige andere auch ist sie nicht von Demenz betroffen. In einem ihrer Bilder mit dem Titel ‚Sommer‘ malt sie einen breiten, quer durchs Blatt gehenden Weg. Und an der Seite dieses Weges erhebt sich ein stämmiger Baum. Wie der Weg, so erstrahlt auch er in leuchtendem Braun, Ocker und Orange. Und wie er so dasteht - kraftvoll, stark, groß - gibt auch dieser Baum dem Bild des Weges – des Lebensweges? – Halt und Orientierung.  Ist nicht auch das eine Bedeutung des Psalms 23? Dass unser Leben inmitten all seiner Höhen und Tiefen, seiner Aufs und Abs immer darauf vertrauen darf, einen Halt zu finden, eine gute Bleibe? In den Worten des Psalms 23: Was auch geschieht, wohin auch immer dein Leben dich verschlägt: Du bleibst im Hause des Herrn. Auch in der Kunst und in der Demenz sind solche Erfahrungen von Bleibe möglich. Der Hirte, hier ist es ein Baum.  

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Hildegard Schwarzbauer

A propos Hirte. Hildegard Schwarzbauer hat ein weiteres Bild angefertigt. Auf dem wird der Hirte zum zentralen Thema. Mit ausladendem, hellgrün leuchtendem Rock, lockiger Haarpracht und einem großen leuchtendroten Mund, steht sie mitten im Bild, dieser Hirte. Oder müsste man nicht sagen: diese Hirtin? Der Hirte eine Frau? Das Bild ist wohl nicht gedacht als visuelle Demonstration eines theologischen Feminismus. Hier werden ja keine theologischen Argumente zur Rolle der Frau in der Kirche ausgebreitet. Das Bild ist eher eine verspielte Umdeutung, leicht, vielleicht sogar leichtsinnig im Umgang mit gewohnten Sicht- und Denkweisen. Sind sich da die Kunst und die Demenz nicht ganz oft einig, in einer Leichtsinnigkeit im besten Sinne des Wortes? Weil sie nie so genau wissen (geschweige denn genau argumentieren), was sie da machen, sondern sich vielmehr dem Moment und der Eingebung anvertrauen. Ich hatte ja eingangs davon gesprochen: In diesen einfachen, spontanen Gesten der Kunst liegt - wie in einem Samenkorn - alles Mögliche bereit. Und so könnte dieses Bild die ebenso schlichte wie tiefgreifende Frage stellen: Warum nicht einmal eine Hirtin vorstellen?  

Das Bild trägt den Titel „Auf Wanderschaft“.  Da ist wieder dieser Gedanke des Unterwegsseins, mit Wanderkarte oder ohne, mit Orientierung oder ohne, mit Demenz oder ohne. Einen Hirten – oder eine Hirtin – brauchen wir alle hin und wieder, der oder die acht auf uns gibt auf der Wanderschaft unseres Lebens. 

Und als ich mir meine Gedanken zu diesem und all den anderen Bildern mache, die da im Laufe eines Nachmittags, sehr unabsehbar, sehr spontan, sehr vielfältig sichtbar geworden sind, kommt mir mit einem Mal ein merkwürdiges Wort in den Sinn: die Wunderschaft. Ich weiß, das Wort gibt es nicht. Aber auch Worte wollen manchmal wie Bilder sein, offen für alles Mögliche, für das noch nicht Gesagte. Und wie Wunder kommen sie mir oft vor, diese Bilder.  

Ist das jetzt zu groß gegriffen? Müssen es denn gleich Wunder sein, die uns hier in diesen Bildern begegnen? Soll die Demenz am Ende doch beschönigt, ja sogar verklärt werden?  

Nein. Vielmehr geht es darum, die Demenz nicht einseitig zu sehen, sondern als Lebensweise mit erstaunlich vielen Facetten. Es stimmt ja: die Demenz führt das Leben sehr oft durch sehr dunkle Täler. Manchmal können wir uns die Demenz nur da vorstellen: in einem von Verlust und Krankheit geprägten Dunkel. Aber es bleibt nicht dabei. Auch in diesen Bildern begegnet uns manches Dunkle, Fremde, Rätselhafte, Unbekannte. Doch wenn wir uns dem Rätsel dieser Bilder zuwenden, dann schenken sie uns immer wieder - unverhofft? - Momente der Verwunderung angesichts dessen, was Demenz auch sein kann. Sich angesichts dessen, was Demenz alles sein kann, zu wundern, das scheint mir der erste Schritt hin zu einer anderen Vorstellung einer Demenz. Die Maler und Malerinnen machen es sichtbar: Durch die Demenz sind auch Momente von intensiver Schönheit, von Poesie und Lebendigkeit möglich. Auch uns schenken diese Bilder die Möglichkeit der Verwunderung. Wenn wir nach ihrer Betrachtung nicht mehr so genau wie vorher „wissen“, was das denn ist, die „Demenz“ dann allerdings wäre viel erreicht. Wir hätten wieder gelernt, uns über die Demenz zu wundern. So wandern und wundern die Blicke staunend durch diese Bilder wie über eine Augenweide der Möglichkeiten. Dieser Wunderschaft dürfen wir getrost vertrauen.  

 

[1] Platon, Ion Dialog, nach Menke, Christoph: Kraft. Frankfurt 2008, S. 68
[2] Tatarkiewicz, Wladyslaw: Geschichte der sechs Begriffe. Kunst, Schönheit, Form, Kreatitivität, Mimesis, Ästhetisches Erlebnis, Frankfurt/Main 2003, S. 194
[3] Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt 2003, S. 194 und S. 182
[4] Wer sehen will, was alles sich da zeigt, kann in mein Buch „Blickwechsel. Die Kunst der Demenz“ schauen (Faust Edition, Frankfurt/Main, 2017). Auch im Internet zeige ich eine Sammlung von Bildern von Menschen mit Demenz: www.durch-einander.com

 

 

Aquarell: Baum mit grünen Blättern

Gemeinschaftsbild – Christa Maiwald ließ den Baumstamm von Oliver Schultz ergrünen und kommentierte glücklich: "Ich kann ja DOCH malen!"